17 November 2011

Damals wars


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Eine kleine - na eher lange - Geschichte. So kam eine Irre wie ich, die in den Achzigern als Punk, Wave, Ted und natürlich Grufti unterwegs war, zur klassischen Musik.


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Der Boléro

Endlich gab es ein Musikzimmer für den entsprechenden Unterricht an unserer Schule. Er war ganz neu, groß, dunkel und es standen Musikinstrumente herum. Als besonderes Highlight gab es eine Anlage, auf der die Lehrer Schallplatten, Kassetten und Tonbänder abspielen konnten. Was für ein Luxus! Wir waren gerade erst in das Schuljahr gekommen, in dem wir nun regelmäßig Musikunterricht haben sollten. Fast schon ein klein wenig ehrfürchtig saßen wir etwas erschrocken auf den bequemen Stühlen und warteten auf den ebenfalls neuen Musiklehrer. Wir schnatterten wild durcheinander und waren uns alle einig, dass der neue Lehrer garantiert keinen Schimmer von guter Musik hat, obwohl wir selbst uns da natürlich auch nicht einig waren: Die Freaks, sowie die Alternativen und die geistig normalen präferierten zu der Zeit "Another Brick In The Wall" von Pink Floyd, die Popper meinten allen Ernstes, "Funkytown" von Lipps Inc. wäre Musik und die ganz Ahnungslosen hörten immer noch ABBA, naja, niemand ist perfekt.

Der neue Lehrer erschien und wir wussten nun ganz genau, dieser Mensch wird uns mit klassischer Musik quälen, man sah es ihm an. Ein leicht rundlicher Mann, rundes Gesicht, schwarze, glatte Haare, zur Seite gekämmt und das Ganze steckte in einem schwarzen Anzug, darüber ein schwarzer Mantel, ein schwarzer Fedora auf dem Kopf und allen Ernstes ein lange weißer Schal dazu. Ja, ehrlich, so sah der aus, wie aus einem Film. Und dann war er auch noch polnischer Herkunft, mit Akzent und zu allem Überfluss war er streng.Wir haben ihn natürlich sofort und unverzüglich als uncool empfunden und abgeschrieben. Und er tat, was er tun musste: Er redete über Musik und zwar auf eine Art, die sofort nervte. Er redete von großen Werken, großen Künstlern und grandiosen Gefühlen und redete und redete und wir verstanden echt kein Wort. Ich hatte nie große Gefühle bei Musik gehabt – ok, ja, Abscheu wenn meine Mutter ihre deutschen Schlager hörte, die mochte ich schon als Kind nicht und heute finde ich sie natürlich erst recht unerträglich. Das Gefühl cool zu sein, wenn man die „richtige“ Musik hörte, so wie meine großen Brüder, also z. B. Sweet, Rory Gallager und The Police kannte ich auch und wenn mein Vater seine Rock'n Roll Platten spielte, fühlte es sich vertraut an. Aber so großartige andere Gefühlsregungen brachte die Musik in mir nicht hervor. Das Radio dudelte ständig, aber das einen so etwas glücklich machen sollte?

Und dann tat der Lehrer, was er wohl tun musste: Er spielte uns ein klassisches Stück vor, die Moldau von Smetana (oder zumindest ein Teil davon) und es passierte etwas: Ich fand das gar nicht schlimm. Es war das erste Mal, dass ich bewusst klassische Musik hörte und ich litt gar nicht so sehr, wie befürchtet. Denn natürlich nahmen wir alle an, dass man darunter leidet, denn klassische Musik ist nur was für schlimme Spießer, alte Leute, abgehobene, überkandidelte, merkwürdige Musiklehrer und Besserwisser. Jugendliche wie wir hören so etwas jedenfalls nicht, auf keinen Fall. Erst viele Jahre später wurde mir bewusst, dass ich doch mit klassischer Musik aufgewachsen bin und sie immer schon liebte, aber es gar nicht bemerkte. Alle Märchenplatten die ich besaß, hatten natürlich eine Hintergrundmusik und es waren immer bekannte klassische Stücke, die ich so nach und nach jetzt wieder finde. Und ich hörte diese Musik gern und sie fühlte sich gut an.

Dann machte der Lehrer einen entscheidenden Fehler, er sprach über das Orchester, über die verschiedenen Instrumente und wie sie eingesetzt wurden und wir verfielen wieder in unsere gelangweilte Starre des Unterrichterduldens und wer vorher noch die Musik als angenehm empfand, dem wurde das durch das unerträgliche Gerede des Lehrers gleich wieder ausgetrieben.

Einige unerträglich langweilige Unterrichtsstunden später hörten wir den Boléro von Ravel und wir durften es einfach durch hören und danach gehen und diesmal passierte etwas. Ich genoss es, ich genoss diese Musik und es nahm mich gefangen. Ich spürte meinen Herzschlag bei jedem Paukenschlag und ich merkte wie die Musik regelrecht von mir Besitz ergriff. Ich lies es zu und es fühlte sich unglaublich an, überwältigend und mitreißend. Ich musste mich nach dem Unterricht sehr zusammenreißen um mir nichts anmerken zu lassen, denn auf keinen Fall durfte ich das zugeben, ich wäre die uncoolste Person auf der Schule gewesen, wenn ich zugegeben hätte, dass mir diese Musik gefällt. Der Boléro ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich wollte ihn wieder, wieder und wieder hören. Tja, aber liebe Kinderlein, stellt euch vor: Es gab kein Internet, keinen Onlinehandel, keine Musikbörsen bei denen man sich Musik laden konnte. Wer Musik hören wollte, der musste sich auf den Weg in die Innenstadt zu einem Musikgeschäft machen und sich eine teure Schallplatte kaufen und genau das plante ich. Ich war noch recht jung und die Stadt war groß und ein wenig beängstigend. Klar bummeln mit Freundinnen, das habe ich schon gemacht, aber die konnte ich nicht mitnehmen, die durften es auf keinen Fall wissen. Also musste ich ganz allein in das so fremde Musikgeschäft, dass ich nur von Außen kannte. Ich hatte echt Angst, aber ich habe mich überwunden, meine Ersparnisse eingepackt und begab mich auf die „Expedition Boléro“.

Eine Weile stand ich vor dem Schaufenster und traute mich kaum hinein. Es wirkte so erwachsen, so fremd, so gar nicht kunterbunt wie die Läden für uns Mädels. Doch ich traute mich hinein und dann stand ich da im Eingangsbereich in dem großen und doch so dunklem Musikgeschäft. Holzgetäfelt und düster ragten die Wände auf und davor standen Musikinstrumente. Nur wo waren die Schallplatten? Ich wollte schon raus rennen und wurde garantiert hochrot, da kam eine Verkäuferin auf mich zu und frage mich nach meinen Wünschen. Ich bekam wohl gerade eben so die Frage nach Schallplatten heraus und sie schickte mich in die erste Etage. Oben angekommen das gleiche Bild: Dunkelholzgetäfelte Wände, davor Schallplatten in Reihen und Kisten und dazwischen Herren in Anzügen – genau die Leute, die normalerweise so eine Musik hören. Mich verließ schon fast der Mut, da kam ein solcher Herr auf mich zu – also wieder ein Verkäufer (damals gab es viele und sie waren sogar richtig freundlich und zuvorkommend). Ich stammelte „Boléro“ und er frage mich, welche Version mit welchem Orchester und welchem Dirigenten ich suchte. Was will der? Ich hab im Musikunterricht gar nicht aufgepasst - gibt’s denn verschiedene? Mal ehrlich: Wenn ich Don’t Stand So Close to Me von The Police kaufen will, fragt man mich doch auch nicht, welche Version und ich wollte den Boléro von dem Onkel Ravel. Ich stammelte also, dass ich das nicht so genau wüsste und hatte großes Glück, denn der Verkäufer wusste trotzdem wohl ganz genau, was ich suchte. Er zog eine Platte aus einem Kasten und meinte, dass wäre seiner Ansicht nach die beste Version des Boléro die es gibt. Er geleitete mich mit der Platte in einen kleinen Raum, dort gab es einen bequemen Stuhl und einen Plattenspieler, er legte die Platte auf und lies mich allein und schon als die ersten Töne erklangen, wusste ich, dass es nicht nur die richtige Version war, sondern auch, dass ich sie jetzt sofort kaufen wollte. Ich traute mich nicht gleich aus dem Raum raus, aber irgendwie habe ich es geschafft, diese Platte zu kaufen – es war die Version von den Berliner Philharmonikern und der Leitung von Herbert von Karajan.

Nachdem ich gefühlte 1000 mal den Boléro hörte, drehte ich die Platte um und das Stück auf der Rückseite zog mich sofort in seinen Bann, es war die Scheherazade von Rimski-Korsakov und diese Musik nahm mich mit auf eine Reise voller exotischer Gestalten und ich träumte mich damit aus meiner grauen Welt fort. Seit dem weiß ich, dass ich auch klassische Musik liebe. Nicht alles, nein wahrhaftig nicht, aber vieles. Mit der Zeit kam immer mehr dazu und diese Musik schafft es immer wieder, mich in ihren Bann zu ziehen und mich glücklich zu machen. Meine Freundinnen haben es damals nicht erfahren, es war mir peinlich, aber heute stehe ich dazu – ich muss ja nicht mehr cool sein ;)

Heute weiß ich auch sehr genau wovon der Lehrer sprach, als er von den Gefühlen redete, die Musik auslösen kann. Ich kann völlig in einem guten Jazzstück versinken, empfinde Erregung bei dem Stück „April“ von Deep Purple, habe Spaß an Velvet Underground und höre sehr sehr unterschiedliche Musik, je nach Gefühlslage. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, warum der Lehrer und viele Klassikfans der Ansicht sind, dass nur klassische Musik etwas Besonderes sei, da irrte der Mann und es entging ihm sicher viel, weil er nicht auch mal was anderes ausprobiert hat. Genau wie jeder, der sich nicht einmal auf ein gutes klassisches Stück eingelassen hat etwas verpasst.

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