19 Juni 2012

Ich bin Sie!


Im Ausflugskaffee fragt die Bedienung: „Und was wollt ihr?“
Beim Spazierengehen fragt eine fremde Frau: „Könnt ihr mal ein Foto von uns machen?“
Im Bekleidungsgeschäft fragt die Verkäuferin: „Kann ich euch helfen?“
Am Telefon bekomme ich zu hören: „Kannst du mir mal ein paar Fragen beantworten?“

Was haben alle diese Fragen gemeinsam?

Diese Fragen haben alle gemeinsam, dass der/die Fragende/n uns zwar völlig unbekannt waren, mich und meinen Mann aber trotzdem geduzt haben.

Das man bei IKEA einfach geduzt wird, finde ich schon befremdlich, diese Distanzlosigkeit gehört dort wohl zum Konzept, gefällt mir trotzdem nicht. Das auch sonst kein Mensch mehr ein förmliches Sie verwendet, wenn er fremde und offensichtlich erwachsene Menschen anspricht, das geht mir doch gewaltig gegen den Strich. Im Internet ist dies sicher normal und allgemein so gewollt. Vor allem in Blogs und bei Facebook ist wohl ein Sie unangebracht und fällt negativ auf. Auf meiner Website verwende ich allerdings stringent (außer auf den Kinderseiten) das Sie, denn die Website richtet sich an erwachsene Personen. Ich finde es schon unschön, wenn ich auf Webseiten mit fachlichen Inhalten, die ganz klar nicht für Kinder sind, immer geduzt werde.

Im realem Leben, abseits der Welt voller Freunde und lustiger Spiele, war es zumindest als ich jung war noch üblich, dass Personen über achtzehn Jahre gesiezt wurden. Es gab Ausnahmen: Alte Damen haben schon immer jeden geduzt, der auch nur ein Jahr jünger war, es war und ist ihr Privileg. Von je her war es wohl auch üblich, sogenanntes Gesindel (also Menschen aus niederen Schichten) zu duzen, wenn man einer höheren Schicht angehörte (schon davon halte ich nichts). Das allerdings Verkäufer, Bedienungen, fremde Menschen auf der Straße, Anrufer und auch sonst alle Welt mich einfach duzt finde ich nicht nur distanzlos, sondern auch im höchsten Maße unhöflich. Für mich ist es eine Frage der Höflichkeit, dass mich eine fremde Person mit Sie anspricht und mir damit ein Mindestmaß an Respekt entgegen bringt. Genau diesen Respekt bringe ich doch auch jeder fremden Person entgegen. Statt dessen wird man von jeder Verkäuferin angesprochen, als wäre man ein Kind, ein Penner oder sonst irgendwie minderwertig oder als wäre man ihre beste Freundin. Kann ich nicht einmal von einer Serviererin in einem Cafe oder einer Verkäuferin erwarten, dass Sie mich wie eine erwachsene Person behandelt? Und nicht, dass hier Missverständnisse aufkommen, ich bin 42 und sehe wahrlich nicht mehr taufrisch aus, da ist es also sehr sehr sehr unwahrscheinlich, dass mein Gegenüber nicht wahr nimmt, dass ich erwachsen bin. Ich habe Übergewicht, ist das wohl ein Grund mich als Minderwertig anzusehen und hat meine Umwelt deshalb keinen Respekt vor mir?

Ist die Gesellschaft mittlerweile wirklich so distanzlos, dass es gang und gäbe ist, sich zu duzen, auch wenn man sich gar nicht kennt? Oder lernen Menschen heute einfach kein gutes Benehmen mehr? Sterben gute Umgangsformen aus? Ist es nicht mehr üblich, zu warten bis der Ältere (oder im Beruf der „ranghöhere“) einem das du anbietet? Muss ich mich wirklich von jeder Verkäuferin, Kassiererin und Bedienung, die häufig gut 20 Jahre jünger sind als ich, mit du ansprechen lassen? Bin ich zu altmodisch, dass mir das nicht gefällt? Ich antworte selbst: „Ja ich bin altmodisch, ja es gefällt mir nicht von jedem gleich geduzt zu werden und nein, ich werde da nicht lockerer werden und drüber weg sehen, es ärgert mich und egal wer mich ohne von mir dazu aufgefordert wurde einfach duzt, er muss damit rechnen, dass ich ihn danach nur noch frostig siezen werde und nicht mehr übermäßig freundlich bin!“ 

So, das musste ich jetzt mal los werden.... selbst schuld, wenn ihr das lest ;)

3 Kommentare:

  1. Ja, es ist schon befremdlich. Teilweise wird man sogar auf der Arbeit von Kunden mit "Du" angesprochen. Ich möchte mich auch gar nicht mit
    allen Menschen duzen!
    Es ist aber kein Konzept von IKEA, sondern in Schweden kommt die förmliche Anrede "Sie" im Sprachgebrauch fast nicht vor. Die förmliche Anrede wird dort nur im Kontakt mit Behörden verwandt.

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  2. Seit ich im Café arbeite, sieze ich wieder deutlich mehr...scheint bei mir jobabhängig zu sein ;) In der Zeit, in der ich in diesem Metalschuppen am Tresen stand, hab ich viel mehr geduzt. Inzwischen sieze ich wieder fast jeden, bei dem ich das Gefühl hab, der ist älter als ich.

    Ganz schlimm finde ich ja einer unserer Dozenten...die ist kaum älter als wir und will, dass wir uns duzen. Ich möchte meine Dozenten nicht duzen. Ich mag Distanz...

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  3. Komposti5:00 PM

    Vielleicht liegt hier einfach ein Missverständnis vor? In manchen Landstrichen besteht noch die alte Gepflogenheit, Menschen, die man flüchtig kennt, mit dem höflichen "Ihr" und "Euch" anzureden, das vor dem "Sie" üblich war, also quasi eine antiquierte Form des Siezens. In meiner Gegend macht man das bei Menschen, die man eigentlich nicht duzt (wäre unhöflich), aber gut kennt und daher nicht mit dem "Sie" auf Distanz halten will (was auch unhöflich wirken könnte). Fremde, die denselben Dialekt sprechen, werden im Laden gleich "mitgeIhrt", Freunde geduzt, hochdeutsch sprechende Fremde meist gesiezt. "Ihr" ist also eine Zwischenform, die die harte Trennung von Nähe und Distanz aufweicht - so wie in Hamburg die Kombination aus "Sie" plus Vornamen.

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